… anzusetzen ist an Herrschaftskritikumfunktionieren lernen in Emailfragenan Eduard Freudmann, Elke Gaugele, Utta Isop und Andreas Kemper |
Bildpunkt: Bildung ist zwar in aller Munde, aber die veröffentlichte Meinung von Standard bis NZZ ist vom Ökonomisierungsparadigma weder abgerückt noch abgeschreckt. Haben die Proteste ihr Ziel verfehlt? U.I.: Nein, die Proteste haben ihr Ziel nicht verfehlt, weil die Ziele der Proteste im Durchschnitt analytisch und praktisch nicht gesellschaftskritisch im Sinn gesamtgesellschaftlicher Ansprüche waren, von einigen Ausnahmen (Audimax-Bewegung, Kritische und solidarische Universität krisu.blogsport.de, Massenuniversität massenuni.blogsport.de und andere) mit einigen Perspektiven auf andere gesellschaftliche Felder abgesehen. Wie ist von „kultur- und bildungsnahen“ Schichten und Medien zu erwarten, dass sie ein Ökonomisierungsparadigma „Bildung ist eine Ware wie jede andere“ kritisieren, wenn doch die Dominanz dieses Diskurses in keiner Weise ernsthaft sämtliche andere Privilegien- und Herrschaftsstrukturen gefährdet, die parallel dazu, wenn auch etwas im Verborgenen, Vorteilsstrukturen aufrechterhalten, die von Generation zu Generation vererbt werden? Systematisch nicht, sondern nur in Einzelfällen, diskutiert wurden organisationale oder hierarchietheoretische Alternativen wie basisdemokratische Organisationsformen, ökonomische Alternativen wie z.B. solidarökonomische oder auf Selbstverwaltung basierende Formen oder kulturverändernde Alternativen wie z.B. das „Verlernen von Privilegien“ (Spivak) oder das Pflegen internationaler Solidaritätsbewegungen z.B. mit den Initiativen zur Ernährungssouveränität (Via Campesina) und anderen. A.K: Das Ökonomisierungsparadigma in der Bildung spiegelt ja nur den gesamtgesellschaftlichen Trend, aus der Markwirtschaft eine Marktgesellschaft zu machen, welche Wilhelm Heitmeyer anhand der Studien zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit konstatiert. Die Gesellschaft wird generell stärker nach Nützlichkeitskriterien bewertet. Eine Einpunkt-Bewegung wird da nicht viel reißen. Aber auch wenn die Ökonomisierung der Hochschulen nicht gestoppt wurde, sind die gemeinsamen Lernerfahrungen im Protest nicht zu unterschätzen. Der Weg ist bekanntlich das Ziel. E.G.: Nundenn: es gibt ja auch noch Zeitungen und Redakteu – r_innen mit anderen Standpunkten, die die Bürokratisierung jenes unternehmerischen Lernens genauer unter die Lupe nehmen und das Ökonomisierungsparadigma als Handel mit Scheinqualifikationen bezeichnen. Die Süddeutsche Zeitung etwa. Jürgen Kaube, der für die Berichterstattung aus den Geisteswissenschaften verantwortliche Redakteur der FAZ, hat letztes Jahr den Band veröffentlicht: Die Illusion der Exzellenz. Lebenslügen der Wissenschaftspolitik (Berlin 2009). E.F.: Mainstream-Medien bis hin zum reaktionärsten Boulevard gaben sich erstaunlich solidarisch – allerdings nur so lange, bis ihnen klar wurde: Die Protestierenden sind sich bewusst, für Verbesserungen im Bildungssystem nicht eintreten zu können, ohne die Veränderung der Struktur und des Systems zu fordern, das ebendieses erschaffen hat. Das Verhalten der Mainstream-Medien als Kriterium für Gelingen oder Misslingen der Proteste heranzuziehen, ist überdies wenig zielführend, denn es wäre paradox zu erwarten, diese ließen sich von der Notwendigkeit transgressiver antikapitalistischer Kämpfe überzeugen. Was (neben manch anderem) tatsächlich gelungen ist: Die Protestierenden haben sich erfolgreich den sehr konkreten Aneignungsstrategien seitens der Medien und etablierter politischer Kräfte entzogen. Bildpunkt: Der „Bologna-Prozess“ ist zum Inbegriff der neoliberalen Umstrukturierung der Universitäten geworden. Ein Ausstieg scheint politisch kaum durchsetzbar. Wie sollte also weiter damit umgegangen werden? E.G.: Es sind ja viele unterschiedliche Ebenen, auf denen das passiert. Zum Beispiel mittels nationaler politischer Anordnungen und finanziellem Druck auf die Hochschulen, sukzessive ihre etablierte Diplom- und Magisterstudiengänge in kleinmaschige B.A./M.A. Studien zu tranchieren, obwohl das die Bologna- Richtlinien nicht als zwingend vorschreiben. Wir haben im März 2010 beispielsweise ein Gegengutachten als Statement der österreichischen Kunstuniversitäten zur LehrerInnenbildungsreform NEU initiiert, das nun auf die Website des Ministeriums gelangt ist und müssen da weiter dran bleiben. Und wenn inzwischen selbst von deutschen Wirtschaftsverbänden Befremden darüber geäußert wird, dass z.B. keine Diplomingenieure mehr ausgebildet werden, distanziert sich die Ökonomie selbst vom Ökonomisierungs- A.K: Besonders „ökonomisch“ ist das ja nicht, was dort umgesetzt wurde. Ich kenne nicht die Zahlen für Österreich, aber in Deutschland wird die Regierung ständig von der OECD ermahnt, mehr Geld vor allem für die frühkindliche Bildung auszugeben, die unsinnige Selektion abzuschaffen, „Risikoschüler“ zu vermeiden. Solange überhaupt nur ein Bruchteil der Nicht-Akademikerkinder überhaupt die Hochschulen erreicht, hat auch eine Neoliberalisierung nicht viel am grundsätzlich korporatistischen Charakter der Bildungssysteme in Österreich und Deutschland geändert. Wie der Schulkampf in Hamburg gezeigt hat, gibt es eine „Sollbruchstelle“ zwischen den ökonomischen Erfordernissen und den Interessen der Privilegierten. Dieser Konflikt ist ausbaufähig. U.I.: Kritik an Bildungspolitiken werden dann erfolgreich sein, wenn sie nicht segmentiert, sondern offensiv und gebündelt im Zusammenspiel mit anderen relevanten Gesellschaftskritiken wie z.B. Kapitalismuskritik und anarchistischer Kritik erfolgen. Wir können nicht eine Dimension von Herrschaft kritisieren und uns damit zufrieden geben, ohne Solidarität mit anderen organisierten GesellschaftskritikerInnen zu üben. Je stärker die Reduktion auf spezifische Interessenspolitiken und Themenfokussierungen, desto geringer die Bereitschaft, sich mit gesamtgesellschaftlichen Zu- sammenhängen unterschiedlicher Herrschaftsstrukturen auseinanderzusetzen und in Bündnispolitiken zu solidarisieren. Kritik an „Ökonomisierung“ und neoliberalen Tendenzen in Gesellschaft und Universität greifen deshalb zu kurz, weil sie ihre Funktionen in Bezug auf neofeudale und hierarchische Parallelstrukturen und Kapitalsorten (Bourdieu) nicht thematisieren. Die systematische Produktion von Staats- und/oder Bildungsadel mit den entsprechenden neofeudalen, „quasifamiliären“ persönlichen Abhängigkeiten und Willkürherrschaften, wie sie innerhalb des staatlichen Bildungssystems gerade in Unabhängigkeit von ökonomischen Tendenzen besonders in Krisenzeiten gepflegt werden, werden nicht thematisiert sondern verklärt. Die systemischen Zusammenhänge von Markt, Staat und sozialen Klassifizierungs- und Selektionsprozessen von Menschengruppen nach unterschiedlichen Kategorien werden durch die Reduktion auf die Kritik an der „Ökonomisierung von Bildung“ ersetzt. E.F.: Der Europäische Hoschschulraum EHEA (European Higher Education Area) zur Förderung innereuropäischer akademischer Mobilität, mit dessen Etablierung im März 2010 der Bologna-Prozess formal abgeschlossen wurde, entspricht in mehrererlei Hinsicht der Befestigung Europas zur Regulation und Verhinderung supranationaler Migration. Sein Zentrum und seine Peripherien sind deckungsgleich mit dem Zentrum und den Pufferzonen des befestigten Europas, sein Funktionieren basiert ebenso wie das des befestigten Europas auf dem nekropolitischen Ausschlussmechanismen. Es ist daher notwendig, die Befestigung Europas nicht nur in Zusammenhang mit dessen Migrationspolitik und Grenzregimen zu betrachten, sondern die Befestigung als Muster zu erkennen, das nach und nach auf weitere durch EU-Politiken regulierte Lebensbereiche übertragen wird, die wechselseitig zueinander in Beziehung stehen. Der Europäische Hochschulraum EHEA ist gewissermaßen als „Fortified Knowledge Center“ zu verstehen, das nur in Verbindung mit der Bekämpfung anderer europäischer Befestigungen, in erster Linie des Grenz- und Migrationsregimes, herausgefordert und angefochten werden kann. Bildpunkt: Der Bildungsbereich ist nach wie vor eines der zentralen Felder, auf denen die Reproduktion sozialer Ungleichheit gewährleistet wird. Dennoch scheint die Verknüpfung von Debatten aus Akademia mit anderen sozialen Kämpfen kaum zu gelingen. Wo kann oder sollte mit feministischen, antirassistischen und/oder gar antikapitalistischen Anliegen noch angesetzt werden? E.G.: Natürlich weiterhin in der gemeinsamen Diskussion, der Lehre, in der Forschung, bei Publikationstätigkeiten und in Netzwerken, wo denn sonst. A.K: Momentan lässt die Antidiskriminierungsstelle der Bundesrepublik Deutschland ein Praxishandbuch Diskriminierungsfreie Hochschule erstellen. Soziale Herkunft oder andere klassenspezifische Termini kommen nicht vor. Wir versuchen dort zu intervenieren, sind aber anscheinend die einzigen, denen überhaupt aufgefallen ist, dass im Hochschulbereich auch aufgrund der sozialen Herkunft diskriminiert wird. Feministische und antirassistische Initiativen beziehen sich gegenseitig aufeinander und bringen abstrakt antikapitalistische Anliegen ein. Von Klasse sprechen eher Gruppierungen, die mit Antirassismus, Feminismus und Alltag nicht viel anfangen können. Gegen die Reproduktion sozialer Ungleichheit arbeiten weder die alltagsuntauglichen alten noch die klassenignorierenden neuen sozialen Bewegungen. Es geht darum, den Klassenbegriff von Denkmustern wie Klassenbewusstsein, Klassenkampf, Klassengesellschaft zu befreien und alltagskampftauglich zu machen. Es gilt, kapitalismuskritische Antiklassismusgruppen zu schaffen, Rosa von Praunheim ist da eher mein Strategen-Vorbild als Che. E.F.: Die Authentizität der Proteste zeigte sich in ihrem transgressiven Charakter: Kritik und Forderungen reichen weit über den unmittelbaren Kontext von Bildung und Universitäten hinaus, denn sie beinhalten die Erkenntnis darüber, wie sehr die neoliberale kapitalistische Marktlogik ausnahmslos alle Bereiche des Lebens infiltriert, kommodifiziert und durch Ausschlusspolitiken isoliert. Just bei der Selbstbetrachtung der Proteste hat es jedoch an solcher Fähigkeit zur übergreifend-kritischen Analyse des Öfteren gemangelt, beispielsweise wenn die Reproduktion sexistischer, rassistischer oder antisemitischer Muster leidenschaftlich bestritten oder geflissentlich übersehen wurde. Bemerkenswert ist der hohe Grad an internationaler Vernetzung und Mobilisierung, der während der Proteste erreicht wurde und sich etwa in Form des transnationalen Anti-Bologna-Gipfels im März 2010 in Wien manifestierte. Zur Verknüpfung weltweiter emanzipatorischer Kämpfe bedarf es allerdings eines Modus, der weder an den (befestigten) Grenzen der Ersten Welt Halt macht, noch auf regressive Konzepte wie jenes der Nation zurückgreift. U.I.: Die nunmehr immer offener ausgesprochene Absage an Massenuniversität und „Bildung für alle“ von Seiten der Ministerien und der RektorInnen entspricht sowohl der Forderung nach Ökonomisierung, als auch der Forderung nach einer „Konzentrati- on auf das autonome Feld der Forschung“ durch Elitenbildung unter Preisgabe des bisherigen „Scheins der Partizipation“ von Seiten der Studierenden und des Mittelbaus, vom allgemeinen Personal und den outgesourcten Facilitydiensten ganz zu schweigen. Anzusetzen ist an Herrschaftskritik überhaupt. Zu diskutieren sind grundlegende anarchistische Organisations- und Strukturformen wie z.B. basisdemokratische und losdemokratische Verfahren, die es ermöglichen, Kulturen des „Verlernens von Privilegien“ und der „Solidarisierung mit anderen Interessenslagen“ zu erlernen und dauerhaft zu praktizieren. Zu entwickeln sind stabile soziale Formen der Begrenzung von Akkumulation an Eigentum, Anerkennung und sozialen Verbindungen mit angemessenen Rotationen von Individuen und Gruppen im Hinblick auf geringere Hierarchie- und Gewaltförmigkeit von Gesellschaft. Eduard Freudmann ist Künstler und arbeitet als Universitätsassistent an der besetzten Akademie der bildenden Künste Wien. Mehr zum Thema: http://eipcp.net/transversal/0809/dokuzovicfreudmann/en Elke Gaugele ist empirische Kulturwissenschaftlerin und Professorin für Moden und Styles am Institut für das Künstlerische Lehramt (IKL) der Akademie der bildenden Künste Wien. Sie lebt in Wien und Frankfurt/M. Utta Isop ist Philosophin, Mitarbeiterin am Zentrum für Frauen und Geschlechterstudien an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Lehrerin und Aktivistin u.a. in den Bereichen Solidarische Ökonomie, Kritische und solidarische Universität, Frauenfrühlingsuniversität. Andreas Kemper ist Herausgeber von Dishwasher. Magazin für studierende Arbeiterkinder (http://dishwasher.blogsport.de/) und lebt in Münster. Die Fragen wurden Anfang August 2010 an verschiedene AktivistInnen und andere ExpertInnen zu Fragen der Bildung und des Wissens verschickt. Die eingetroffenen Antworten wurden zusammengestellt und leicht gekürzt von Jens Kastner. |